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Deutsch LK Vahl
 
Der Herr der Aufklärung
Die erotischen Seiten des Deutschunterrichts
"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit."
Immanuel Kant

Wer heutzutage im Fach Deutsch einen Leistungskurs belegt, erwartet wahrscheinlich todernste und staubtrockene Abhandlungen über die Klassiker der deutschen Literatur. Auch wir waren davon überzeugt, uns volle zwei Jahre lang ununterbrochen mit Goethes "Faust" und Schillers "Wilhelm Tell" beschäftigen zu müssen. Um so mehr überraschte es uns, daß bei den Kursthemen ein gänzlich anderer Schwerpunkt gesetzt wurde, der lebensnah und gegenwartsbezogen präsentiert wurde: die Aufklärung.
Die Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts ist eng mit der Person von Kursleiter Heinrich Vahl1 verbunden. Durch sorgsame Auswahl der Kurslektüre sowie arbeitsintensive mitternächtliche Vorbereitung des Unterrichts gelang es ihm, uns ahnungslosen Schülern Analysetechniken und grundlegende Zugriffsweisen an die Hand zu geben. Unerläßlich war deshalb bereits in der zweiten Stunde eine trockene, sehr zähe Textarbeitsphase, in der mit Kants2 "Was ist Aufklärung" wichtige Grundlagen für den gesamten weiteren Unterricht geschaffen wurden. Unerfahren, wie wir trotzdem noch einige Zeit bleiben sollten, mußten wir uns zunächst mit Lessings "Nathan der Weise", einem eher prüden Werk, befassen, das aufklärerisch nur wenig zu bieten hatte. Mehr in dieser Hinsicht leisteten dagegen Schillers "Räuber", zu denen wir nach einer Weile geduldigen Wartens vorstießen. Erregt vernahmen wir dort, daß jungen Mädchen nachgelaufen3 und "die Tochter eines reichen Bankiers allhier entjungfert"4 wurde. Den immer wichtigen Gegenwartsbezug stellte Heinrich Vahl hier durch die Präsentation ultra-kultischer Bilder aus Oswald Kolles Aufklärungswerk "Deine Frau"5 her. Solcherart gewappnet, konnten wir uns dann an delikatere Lektüre wagen. Theodor Fontanes6 "Effi Briest" war dazu ausersehen, uns einen weiteren Schritt auf der Aufklärungsleiter erklimmen zu lassen. Tief erschüttert blickten wir in die menschlichen Abgründe von Dreiecksbeziehungen, Eifersucht, Ehebruch und sogar unehelichen geschlechtlichen Beziehungen. Intensiv betrachteten wir die geheimen Wünsche und Gedanken von Effi. Kein Detail ihrer Intimsphäre blieb uns verborgen, weder der japanische Bettschirm7 noch die Ampel mit dem roten Schein8 für das eheliche Schlafzimmer. Einprägsame Motive und deutliche Symbolik, wie zum Beispiel das Rosenmotiv, ließen uns das Ausbleiben von Effis Regel und die daraus folgende Schwangerschaft erahnen. An dieser Stelle leistete ein, ich sage mal9, Text über die Rolle der Frau in der modernen Familie den Bezug zur Gegenwart, der einen besonders aufgeklärten Standpunkt aufzeigte und unsere Entwicklung weiter beschleunigte. Das war auch dringend nötig, denn jetzt kamen wir zum Höhepunkt.
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© 2003 by Martin Stenzig